Juni 2016
Der Arbeitskreis Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder und Jugendlicher wirbt seit 1991 in Berlin für das gemeinsame Aufwachsen, Lernen und Leben von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen und damit mit den unterschiedlichsten individuellen, familiären und gesellschaftlichen Möglichkeiten. Der AK GEM ist überzeugt, dass die alltägliche Erfahrung gemeinsamen Lernens in Kita, Schule und Ausbildung bei ganz unterschiedlichen kognitiven, psychischen und physischen Voraussetzungen und Herkünften nicht nur individuell bereichert, sondern auch zur demokratischen Haltung beiträgt. Inklusion ist ein Grundelement einer zukunftsfähigen, pluralistischen, demokratischen und offenen Gesellschaft. Sie ist ein Kernelement einer Schule für alle, die auf einer Pädagogik der Vielfalt beruht und selbstverständlich weit über das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen hinausgeht.
Berlin hat in seinem Bildungssystem, vor allem in den Kindertagesstätten und allgemeinen Schulen, seit langem viel für die Entwicklung inklusiver Bildung getan, durch eine integrationsorientierte Entwicklung der Kindertagesstätten und den allmählichen Auf- und Ausbau integrativen, gemeinsamen Lernens vor allem in Grundschulen und Integrierten Sekundarschulen in allen Bezirken Berlins. In den letzten 15 Jahren sind jedoch aufgrund der bis vor wenigen Jahren ‚gedeckelten‘ Stellen für sonderpädagogische Förderung im gemeinsamen Unterricht und aufgrund der Aufrechterhaltung eines ausgebauten und verfestigten Systems verschiedener Förderschularten (mit günstigen Ausstattungen) die personellen, räumlichen und sächlichen Voraussetzungen für gemeinsames Lernen in den allgemeinen Schulen verschlechtert worden. Gemeinsames Lernen ist nicht nur lernwirksamer, sondern muss durch bessere personelle, organisatorische und räumliche Bedingungen für noch mehr Eltern, Kinder und Lehrkräfte attraktiver werden.
Der AK GEM fordert daher für die kommende Legislaturperiode:
- Der Ausbau der Inklusiven Berliner Bildung muss im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zügig fortgesetzt werden, so dass im Jahr 2020 mindestens 80% aller Schulen (aller Schularten, einschließlich der beruflichen Bildung) inklusive Profile und Ausstattungen haben. Dabei muss darauf geachtet werden, dass der Ausbau der gemeinsamen Erziehung auch zum tatsächlichen Abbau der Schulplätze in Förderschulen führt (‚System der kommunizierenden Röhren‘). Das Berliner Schulgesetz muss im Sinne von Inklusion novelliert werden, insbesondere der § 37, der das uneingeschränkte Recht auf inklusives Lernen in allgemeinen Schulen enthalten muss. Berlin kann sich hier an Hamburg orientieren.
- Der AK GEM unterstützt die Einrichtung der sog. Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentren (SIBUZ) in allen Bezirken Berlins. Die Integration von Schulpsychologie, inklusionspädagogischer Beratung, der Jugend- und Sozialarbeit und die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen muss gelingen, vor allem um die Entwicklung der inklusiven Schulentwicklung zu unterstützen und die Beratung und Förderung von Heranwachsenden mit Verhaltensproblemen zu stärken. Eine Ombudsstelle zur Klärung und Moderation von Konflikten sollte an die SIBUZ angegliedert werden. Die SIBUZ sollten entwicklungsbegleitend und praxisnah wissenschaftlich begleitet werden, unter Einbeziehung der Erfahrungen in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg.
- Die neu einzurichtenden inklusiven Schwerpunktschulen betrachtet der AK GEM als eine Übergangsmöglichkeit, um durch eine attraktive baulich-räumliche, sächliche und personelle Ausstattung den Kindern und ihren Eltern für die Förderbereiche Hören, Sehen, geistige, körperlich-motorische Entwicklung und Autismus echte Alternativen zur Förderschule anzubieten. Bei dieser Entwicklung dürfen aber Schulen, die seit Jahren Kinder aller Förderschwerpunkte aufnehmen und sich Verdienste um das gemeinsame Lernen und Leben gemacht haben, nicht in ihrer bisherigen Arbeit benachteiligt werden. Bei der Evaluation der Schwerpunktschulen sollte daher auch untersucht werden, wie sich die Bereitschaft anderer Schulen entwickelt, inklusive Schulkonzepte zu realisieren.
- Das Konzept der verlässlichen Grundausstattung für die Förderbereiche Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache (LES) wird unterstützt. Es sollte ab seiner Einführung im Schuljahr 2017/18 prozessbegleitend evaluiert werden. Die Übergangsfragen von der Grundschule zur Sekundarstufe I bei der Einführung der verlässlichen Grundausstattung für LES müssen bis Ende 2018 geklärt werden.
- Inklusive Schulen brauchen eine innerschulische Koordination für alle sonder- und sozialpädagogischen Aktivitäten und für die notwendigen dauerhaften Kontakte zu Jugendamt, Sozialamt, SIBUZ, Vereinen und anderen in einem Innerschulischen Zentrum für Inklusion (Zentrum für pädagogische Unterstützung oder Ressource Center). Im Jahr 2020 sollten mindestens alle Ganztagsschulen solche Zentren mit entsprechender räumlicher Ausstattung und einer verantwortlichen Person (mit Anrechnungsstunden) haben.
- Inklusive Schulen sollten Ganztagsschulen sein, am besten gebundene! Entsprechend ist ein Programm für eine qualitätsvolle, kinder- und jugendfreundliche Schulentwicklung mit einem rhythmisierten Tagesablauf zu entwickeln und eine angemessene personelle sonder- und sozialpädagogische Ausstattung dauerhaft vorzuhalten.
- Der Integrative Rahmenlehrplan wird begrüßt. Er verlangt jedoch neue Formen der Bewertung und der Abschlüsse, die kompetenzorientiert, nicht diskriminierend und für Eltern, Schülerinnen und Schüler und für die Abnehmer inhaltlich klar sind. Die kommende Bildungsverwaltung wird aufgefordert, dafür bis Ende 2017 ein von Lehrkräften praktizierbares Konzept vorzulegen.
- Ein qualitativ hochwertiger, kooperativer und binnendifferenzierter Unterricht, Zeit für individuelle Rückmeldungen und die Förderung der Selbstregulierung der Schülerinnen und Schüler, Zeit für Fallbesprechungen, gemeinsame Unterrichts- und Förderplanungsarbeit, die Zusammenarbeit mit schulexternen Einrichtungen u.a. erfordert für alle inklusiv arbeitenden Schulen einen Stundenpool, der demokratisch in schulinterner Absprache verteilt wird. Hektik und zeitliche Überforderung wirken sich ungünstig auf das Schulklima und auf das Wohlbefinden, die Gesundheit, die Motivation und auf die Leistungen von Pädagogen und Schülern aus.
- Nach wie vor verlässt trotz Schulstrukturreform eine zu große Gruppe von Jugendlichen ohne Abschluss die Schule, darunter viele mit bisheriger sonderpädagogischer Förderung, und auch deren Perspektiven in Ausbildung und Berufseinstieg sind risikobehaftet. Daher verlangt der AK GEM von der Bildungsverwaltung, ein pädagogisches Gesamtkonzept von der Sekundarstufe bis zur beruflichen Bildung vorzulegen, bei dem jahrgangsübergreifendes Lernen, Zertifizierung von Teilqualifikationen, polytechische Angebote und die Verpflichtung zu Individualisierung und Differenzierung bis in die Sekundarstufe II einbezogen sind. Dazu gehören auch Überlegungen, eine Öffnung des MSA hin zu kompetenzbezogenen Qualifikationen (im Rahmen von Modellversuchen) zu ermöglichen.
- In die Inklusive Bildungsentwicklung sind die Schulen der freien Träger gleichberechtigt einzubeziehen. Dabei sollen die inklusionsbezogenen sonderpädagogischen Mittel extra ausgewiesen und aus der bisherigen pauschalen (schulformbezogenen) Personalzuweisung herausgenommen werden.
- In den Inklusiv arbeitenden Schulen muss eine einfache, aber transparente Rechenschaftslegung über die erforderlichen – meist sonderpädagogischen – Ressourcen eingeführt werden. Das gilt sowohl für die verlässliche Grundausstattung im Förderbereich LES wie für die Zuweisung bei den übrigen Förderschwerpunkten. Rechenschaftslegung über die Verwendung dieser Ressourcen sollten für die öffentlichen Schulen wie für die Schulen in freier Trägerschaft in gleicher Weise gelten.
- Der AK GEM hat die Einrichtung eines Beirates Inklusion bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft und dessen praxisnahe Arbeit begrüßt und fordert auch für die nächste Legislaturperiode einen entsprechenden Beirat. Die neue Regierung ist darüber hinaus aufgefordert, wie in anderen Bundesländern eine Stabsstelle Inklusion beim Regierenden Bürgermeister und einen zugeordneten Beirat Inklusion für alle Lebensbereichen einzurichten. Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Angehörigen müssen einen einheitlichen Ansprech- und Verhandlungspartner in Berlin haben und dürfen nicht auf 12 Bezirke oder einzelne Verwaltungen verwiesen werden.