Vom AK GEM beschlossen am 08.06.2004 Der AK GEM nimmt im Folgenden zu zentralen Punkten Stellung, in der Hoffnung, dass wesentliche Einwände noch in die Beratungen der offiziell damit befassten Gremien und der Verwaltung einfließen können. Grundsätzlich verweisen wir außerdem auf unsere Stellungnahme vom Januar 2003 zur Schulgesetzänderung (Referentenentwurf vom 10.12.2002), soweit hier integrationspädagogische und sonderpädagogische Aspekte aus dem Schulgesetz direkt übernommen wurden. Die VOSopä enthält begrüßenswerte und problematische Passagen. Der AK GEM begrüßt , • dass die Frühförderung und die berufliche Bildung Teil der integrativen Arbeit sind bzw. werden (§ 1, § 21); • dass die “ Ausbildungsbegleitung ” als Gegenstandsbereich der VOSopä bereit im § 1 erwähnt wird; allerdings finden sich in der VOSopä später keine weiteren Bezüge dazu; • dass für alle Schüler individuelle Förderpläne erstellt werden müssen und die Schüler an der Fortentwicklung zu beteiligen sind (§ 3.2). Der AK GEM würde statt einer halbjährlichen Fortschreibung eine Fortschreibung im Rhythmus des Schuljahres (nach der Sommerpause; nach Neujahr; nach Ostern) für sinnvoller halten; • dass auf den Zeugnissen vermerkt werden kann, in welchen Fächern die Leistungsanforderung und –bewertung nicht nach den Maßstäben der allgemeinen Schule erfolgt (§ 18.3); • dass Obergrenzen von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in integrativen Klassen der Primar- und Sekundarstufe eingeführt werden, und die in der VOSopä vorgeschlagene jeweilige Zahl (§ 19 und 20); • dass der Nachteilsausgleich neu aufgenommen wurde (§ 3, 38 ff.). Der AK GEM kritisiert jedoch grundsätzlich, dass dieser Entwurf einer Neufassung der VOSopä dem im Schulgesetz verankerten Vorrang der sonderpädagogischen Förderung im gemeinsamen Unterricht nur ungenügend entspricht. Der Zusammenhang zur Grundschulverordnung und zur Sek.-I-Verordnung wird nicht hergestellt und das in den Paragrafen 31-33 festgelegte Feststellungs- und Aufnahmeverfahren widerspricht diesem Vorrang geradezu. Darüber hinaus hält der AK GEM folgende Punkte für problematisch und schlägt entsprechende Änderungen vor: • In § 4.3 wird von “ sonderpädagogischen temporären Lerngruppen ” gesprochen. Wir begrüßen temporäre Lerngruppen als Teil der inneren Differenzierung innerhalb von Schulklassen. In der Formulierung der VOSopä ist jedoch jedem selektiven Missbrauch Tür und Tor geöffnet – eine Schule kann mit dieser Formulierung alle offiziellen Förderkinder “temporär” (hier ist auch ein Schuljahr und mehr denkbar) in sonderpädagogische Klassen ausgliedern. Diese sind weder lerneffektiv noch sozial akzeptabel. Erforderlich ist also eine Klarstellung des Zweckes sowie eine zeitliche Begrenzung auf höchstens drei Monate und eine Eingrenzung auf bestimmte Förderschwerpunkte. Außerdem sollte das Attribut „sonderpädagogische“ gestrichen werden: Im Einzelfall kann eine Förderung in speziellen temporären Lerngruppen durchaus auch für Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zweckmäßig sein. • In § 4.4 wird von Kindern gesprochen, die “wegen fehlender Voraussetzungen in der allgemeinen Schule nicht gefördert werden können ”. Diese Formulierung ist inakzeptabel: Wie die Praxis der Berliner Schule zeigt, gibt es grundsätzlich keine Behinderungs- bzw. Förderart, die in der allgemeinen Schule nicht integriert werden kann. Die Sonderschulen können sich nicht mit dieser tradierten Begründung legitimieren, sondern, da nach dem Vorrang der allgemeinen Schule das Subsidaritätsprinzip gilt, nur durch pragmatische Gründe, die in den äußeren Bedingungen liegen. Das muss hier deutlicher werden. • In § 4.7 wird der Einsatz von Ambulanzlehrern auch für den Personenkreis der “Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Berufsausbildung ” benannt, allerdings mit dem Zusatz “auf Anforderung”. Der AK GEM schlägt vor, dass dieser Einsatz ein Regelanspruch ist und daher dort entsprechende Stellen eingeplant werden. Der Einsatz der Ambulanzlehrer beim Übergang Schule – Beruf sollte nicht auf “besondere Fälle” eingeschränkt werden. Vielmehr sind generell Jugendliche mit Behinderungen beim Übergang zu begleiten. • § 5.1: In der Ganztagsschule und in der verlässliche Halbtagsschule dürfen Schulhelfer nicht nur auf Unterricht bezogen tätig sein. Die Einschränkung sollte also entfallen. Im Übrigen sollten Schulhelfer auch in der Berufsschule eingesetzt werden können. • § 5.4: “ Schulfremdes Fachpersonal ”: Wenn die Schule Nichtlehrer als Fachpersonal einstellt, dann sind diese nicht “schulfremd”. Entweder muss der Begriff entfallen oder genauer gesagt werden, wer damit gemeint ist. Schulfremd sind allenfalls Personen, die kein Anstellungsverhältnis, auch nicht auf Honorarbasis, an einer Schule haben. • § 11: Fachwissenschaftlich ist nicht begründbar, warum in den Förderbereich “Lernen ” neben kognitiven auch sprachliche und vor allem emotional-soziale Rückstände (sprich: Defizite) definitorisch einbezogen werden. Solch ein extrem ausgedehnter Lernbehinderungsbegriff bedeutet praktisch, dass nur beim Vorhandensein aller drei Defizitbereiche eine Förderung zugebilligt wird. Soll damit ein Sparprogramm legitimiert werden? • § 12.2: Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wird eine berufliche Orientierung und das Ziel der Integration ins Arbeitsleben in der VOSopä vorenthalten. Das steht im Widerspruch zum Berliner SchG § 23.3, der keinerlei Einschränkungen vorsieht. Es sollte die selbe Formulierung wie im Gesetz eingefügt werden, wie bei Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Lernen (§ 11.2 Satz 3). • § 13.3: Statt “Heimschulen” werden nun unspezifisch “ sonderpädagogische Einrichtungen in Verbindung mit Maßnahmen der Jugendhilfe ” eingeführt. Damit ist eine unkontrollierbare Expansion von Sondergruppen möglich. Schon jetzt haben einzelne Bezirke bzw. Schulaufsichtsbehörden solche Gruppen halb außerhalb der Legalität eingerichtet. Auch ist festzustellen, dass besonders Ostberliner Schulen mit Zustimmung der zuständigen Schulaufsicht Sonderlerngruppen für Verhaltensauffällige (“Beo-Klassen”) führen, obgleich deren negative Wirkungen dazu führten, dass sie in den 80er Jahren in Westberlin faktisch eingestellt wurden. Der AK GEM plädiert dagegen in Anlehnung an das Hamburger REBUS-Konzept für individuelle Förder- und Hilfeansätze in Verbindung mit der zuständigen allgemeinen Schule. • § 19.5: Die Jahrgangsstufen 5 und 6 sollten jeweils zwei zusätzliche Förderstunden erhalten, vorrangig für sonderpädagogische Förderung und Differenzierung im neuen Fach Naturwissenschaften . Zur Begründung sei darauf verwiesen, dass das Stundendeputat in der Grundschule ansteigt, die sonderpädagogischen Förderstunden jedoch bislang nicht, und somit relativ absinken. Das kann gerade im neuen Fach Naturwissenschaften nicht akzeptiert werden. • § 20.2.6: Es widerspricht der künftig größeren Autonomie der Einzelschule, wenn in 20.2.6 geregelt werden soll, ob Schüler die 9. und 10. Klasse wiederholen dürfen oder nicht . Das soll der individuellen Hilfeplanung an der Schule, mit Einverständnis der Schüler bzw. der Erziehungsberechtigten, überlassen werden. • § 20.3 bzw. 20.4: Durch die Aufspaltung in zwei unterschiedliche Abschlüsse (§ 20.3 berufsorientierter Abschluss und § 20.4 ein dem Hauptschulabschluss gleichwertiger Abschluss ) werden die beruflichen Startchancen der Schüler/innen mit dem Förderschwerpunkt Lernen weiter verschlechtert. Die Regelung in § 20.3 wird aller Voraussicht nach vom nachschulischen System nicht anerkannt werden bzw. keine praktische Verwertungsbedeutung haben.- Für beide Abschlussregelungen werden im Übrigen die fachpraktischen Arbeitsleistungen zu wenig berücksichtigt (nur in § 20.3 Teampräsentation). Das ist eine Verschlechterung gegenüber den bisherigen BB10- und BO10-Regelungen. Viele Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Lernen werden u.E. mit dem Versuch, einen Hauptschulabschluss zu erwerben, zur Klassenwiederholung der Jahrgangsstufe 10 gezwungen oder in die schulischen Berufsvorbereitungsangebote nach § § 29.3 Berliner SchG gedrängt. • § 20.6: Die Begrenzung integrativer Klassen in der Sekundarstufe ist grundsätzlich abzulehnen. Es gibt keinerlei nachvollziehbare Gründe, warum eine Schule im Rahmen ihrer größeren Selbständigkeit als Teil ihres Schulprogramms und Profils nicht beschließen dürfte, dass alle ihre Klassen, soweit Nachfrage besteht, Kinder mit Förderbedarf aufnehmen. Die Begründung “schulorganisatorisch” ist nicht spezifiziert, und im Übrigen der größeren Selbständigkeit der Einzelschule, dem Wahlrecht der Erziehungsberechtigten und dem Diskriminierungsverbot des GG Art. 3.3 nachgeordnet. • § 21.1 In der Berufsschule ist nur zielgleiche Integration vorgesehen. Hier bedarf es zur Erprobung von zieldifferenten Integration dringend der Schulversuche – insbesondere in der Berufsausbildung, zumal es solche für den Bereich der Berufsschulen mit sonderpädagogischen Aufgaben schon gibt. • § 21.2: Der Verweis auf ausbildungsbegleitende Hilfen (das sind Leistungen nach SGB III) ist in einer schulischen Rechtsverordnung fragwürdig. Die Schule sollte hier eigene Unterstützungsmaßnahmen anbieten. Möglich wäre folgende Formulierung: “Schülerinnen und Schüler, die sich in einer dualen Berufsausbildung befinden, sollen durch geeignete Förder- und Unterstützungsangebote wie dem Einsatz von Ambulanzlehrern, Nachteilsausgleiche sowie Binnendifferenzierung so gefördert werden, dass sie das Ausbildungsziel erreichen können. Zur Koordinierung der Fördermaßnahmen ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Jugendlichen, Schule, Ausbildungsbetrieb oder –träger sowie Erziehungsberechtigten erforderlich.” • § 22.2 (und 23.2): Frühförderung sollte nicht sowohl von der Jugendhilfe als von der Sonderschule angeboten werden. Vielmehr ist hier eine klare Zuordnung nötig, u.E. bei der Jugendhilfe. Frühe Zuordnung zu Sonderschulen führen dazu, dass gemeinsame spätere schulische Integration erschwert wird. • § 22.3: Wenn hier im letzten Satz für Klassen an Sonderschulen für Sehbehinderte mit mehr als 6 Schüler/innen äußere Fachleistungsdifferenzierung nahe gelegt wird, kann auch dies selektiven Missbrauch veranlassen. Wir schlagen stattdessen folgende Formulierung vor: Soweit erforderlich, kann der Unterricht leistungsdifferenziert erfolgen. (Das gilt analog auch für den Förderbereich Hören.) • § 31-33: Das hier festgelegte Feststellungs- und Aufnahmeverfahren entspricht nicht dem schulgesetzlich verankerten Vorrang des gemeinsamen Unterrichts. Wir kritisieren grundsätzlich, dass künftig die Erziehungsberechtigten und die aufnehmende Schule aus dem Feststellungs- und Genehmigungsverfahren heraus genommen werden, die Schulen als bloße Empfänger von Verwaltungsentscheidungen behandelt werden und im gesamten – ausschließlich sonderpädagogischen – Diagnoseverfahren ein Rückfall hinter ganzheitliche, multiprofessionelle Sichtweisen einbeziehende moderne Verfahren festzustellen ist. Erkennbar ist im Übrigen das Interesse, dass die Sonderschulen nun zentral organisieren und vorentscheiden, wer integriert oder in Sonderschulen unterrichtet werden soll. Damit ist eine unabhängige Diagnose und Beratung in Frage gestellt ; denn man kann das strukturelle Eigeninteresse von Sonderschulen an einer Mindestüberweisung von Schülern an die eigene Schule nicht außer Acht lassen. Letztlich stellt dieser Teil der VOSopä eine Rückkehr zu alten, vor 1990 vorherrschenden, rein sonderpädagogischen und sonderschulischen Verfahren der Feststellung des Förderbedarfs dar. Der AK GEM weist darauf hin, dass diese Position international längst zugunsten institutionsunabhängiger, multiprofessioneller Diagnostik und Entscheidung ersetzt wurde. • § 32.3 Die Bezeichnung “ wissenschaftlich anerkannte Testverfahren ” ist problematisch. Zum einen gibt es zunehmend mehr Diagnoseverfahren, die sich auch international bewährt haben, die aber keine Tests im engen Sinne sind. Zum anderen sollte eine Liste bewährter Diagnoseverfahren als Empfehlung herausgegeben, und von Zeit zu Zeit von einer Kommission überprüft werden, welche neuen Verfahren mit in die Liste aufgenommen werden sollen. • § 34: Aufnahmeausschuss : Auch hier soll ohne die Einzelschule, ohne die aufnehmenden Klassenlehrer rein administrativ beraten und entschieden werden (Erziehungsberechtigte und Schulleitung haben nur noch ein Anhörungsrecht). Dass die zuständige Sonderschule hier den Vorsitz einnimmt, und dass Schulbehörde und Sonderschule zusammen (ohne oder gegen den einbezogenen Schulpsychologen) entscheiden können, spricht für eine im Konfliktfall einseitige Struktur und bestätigt das fragwürdige Verfahren aus § 31-33. Der Geist der VOSopä ist an diesen Stellen rein obrigkeitlich – auch gegenüber den selbständiger werdenden Einzelschulen, vor allem aber auch gegenüber den angeblich wahlfrei entscheidenden Erziehungsberechtigten. Sie haben weniger Rechte als zuvor. Deshalb sollten die Erziehungsbe4rechtigten in Analogie zum bisherigen Fö4rderausschuss Mitglieder des Aufnahmeausschusses werden, ebenso die Widerspruch einlegende Schule. Auf diese Weise ist ein gleichberechtigter Zwang zur Verständigung installiert. • § 36.3: Beförderungskosten : Der AK GEM kritisiert seit Jahren, dass in Berlin jene Bezirke die Beförderungskosten zu tragen haben, in denen die Schule liegt . Damit ist kein Anreiz gegeben, kurze Wege – d.h. wohnortnahe Integration – anzustreben. Würde das Wohnortprinzip , wie es andere Bundesländer praktizieren (z.B. auch Brandenburg und Hamburg) angewandt, würde der Wohnortbezirk ein Interesse haben, geringe Kosten durch kurze Wege zu erreichen. Dem AK GEM ist unverständlich, warum diese Lösung, die zugleich Integration befördert, seit Jahren und erneut in dieser Regelung abgelehnt wird. –Im Übrigen lehnt der AK GEM die Beteiligung der Eltern an den Beförderungskosten in die Schule als unsoziale Maßnahme ab.